Lithauische Musikfeste

Übersicht

 

Heute ist nicht mehr allgemein bekannt, dass bis zum 1. Weltkrieg in Teilen Ostpreußens Litauisch als Gebrauchssprache weit verbreitet war. Eine Region, die als Klein-Litauen bezeichnet wurde (alternativ Litthauen, Deutsch-Litauen, Preußisch-Litauen) gehörte seit Jahrhunderten – unabhängig vom politischen Schicksal des litauischen Kerngebiets – zum Herzogtum (16./17. Jh.) bzw. Königreich (ab 1701) Preußen. Litauisch wurde im nördlichen und östlichen Teil Ostpreußens gesprochen, in den Gebieten um Memel, Tilsit, Insterburg und Gumbinnen.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts verlor die litauische Sprache in Ostpreußen stetig in dem Maße an Verbreitung und Bedeutung wie die deutsche hinzugewann. Um 1850 erschienen die ersten sprachwissenschaftlichen Werke über die litauische Sprache (allgemeine Untersuchungen, Wörterbücher, Grammatik), bezeichnender Weise – weil die philologischen Wissenschaften hier besonders weit entwickelt waren – oft von deutschsprachigen Forschern.

Die Litauische Grammatik von August Schleicher, erschienen 1856 in Prag, gibt in der Einleitung einen schönen Überblick über die damalige Verbreitung des Litauischen insgesamt, speziell aber in Ostpreußen. Sie lässt auch erkennen, dass sich das Litauische hier schon auf dem Rückzug befand [1]:

Von der litauischen Sprache und ihren Mundarten.

§ 3. Die litauische Sprache wird gegenwärtig vom Volke noch gesprochen in dem nördlichen Teile der kön. Preuß. Provinz Ostpreußen und in weiterer Ausdehnung in den angrenzenden Teilen Russlands; eine Linie von Labiau am kurischen Haffe nach Osten bis Grodno, von hier mit einer kleinen Ausbiegung nach Osten nordwärts bis in die Nähe von Dünaburg und von da westwärts zurück an die See (etwa nach Liebau) dürfte nach den bisherigen Angaben das Gebiet der litauischen Sprache im ganzen und großen umschreiben.

Genauer bekannt ist mir von diesem Gebiete nur der kleine Teil, welcher zum Königreiche Preußen gehört, das folgende Werk bezieht sich demnach hauptsächlich auf das preußisch Litauische; das Litauische, welches im russischen Teile des Sprachgebietes gesprochen wird, kenne ich nur aus Büchern und durch einzelne Personen aus jenen Gegenden. Im preußischen Litauen ist die litauische Sprache und Nationalität schon tief herab gedrückt und fast ausnahmslos auf die niederste Volksschicht beschränkt. Besonders im Süden des Sprachgebietes ist das litauische in ziemlich raschem Aussterben begriffen; die Kreise Labiau, Insterburg, Gumbinnen, Goldapp, zu Ende des vorigen Jahrhunderts noch fast durchaus litauisch, sind nunmehr fast gänzlich deutsch geworden; in den Kreisen Pillkallen, Stallupönen, Tilsit, Ragnit, Niederung sind ebenfalls sogar auf dem Lande die wohlhabenderen Leute und die Bewohner der Pfarrdörfer meist deutsch, die Bevölkerung ist im ganzen jedoch vorherrschend litauisch; in den Kreisen Heidekrug und vor allem im Kreise Memel ist das litauische Element am stärksten vertreten. Die Städte sind durchaus deutsch. […]

[Der Text wird in der aktuellen Orthografie wiedergegeben, weil die sehr persönliche, den Reformvorschlägen Klopstocks folgende Rechtschreibung des Autors den heutigen Leser irritieren würde.]

In Ostpreußen bezeichnete man diese Gebiete im 19. Jahrhundert noch völlig selbstverständlich als Littauen [2]. Da verwundert es nicht, dass in einer Ära der Musikfeste auch Litthauische (Lithauische, Littauische, Litauische) Musikfeste veranstaltet wurden. Der früheste Hinweis findet sich im Jahr 1837, also gerade einmal vier Jahre, nachdem das erste Musikfest in Marienburg stattgefunden hatte. Die Zeitschrift Isis brachte in ihrer Rubrik „Überblick der Ereignisse“ folgende Meldung:

Königsberg, den 9. September. Das Litthauische Musikfest wird in Gumbinnen am 12. und 13. Oktober stattfinden. Es haben sich bisher 36 Personen zum Mitwirken im Orchester und 91 zum Sängerchor angemeldet. Am ersten Tage wird Haydn’s Schöpfung und am zweiten Tage eine Symphonie Beethoven’s, die Ouvertüre zum Freischütz, ein Männer-Quartett, das erste Finale aus Figaro’s Hochzeit und ein Festgesang ausgeführt werden.
[Isis 1837, S. 152]

Ein anspruchsvolles Programm für ein Musikfest in der Region. Offensichtlich trat ein gemischter Chor auf (Schöpfung). Als Besonderheit fällt ins Auge, dass die Teilnehmer sich wohl einzeln anmeldeten; von beteiligten Chören aus der Region ist nämlich nicht die Rede. - Ob auch kleinere Chorwerke in litauischer Sprache aufgeführt wurden, ist nicht bekannt.

Im Jahr 1844 hat es offenbar ein weiteres Muskkfest gegeben (Ort: vermutlich Insterburg; aufgeführtes Werk: vermutlich Die Jahreszeiten). Danach trat eine 50-jährige Pause ein, wie eine Kurzmeldung im Musikalischen Wochenblatt zeigt:

Die Lithauischen Muskfeste, die seit 1844 geruht haben und deshalb nur Wenigen in Erinnerung sein werden, sollen im n. J. in Tilsit eine Fortsetzung erfahren.
[Mus. Wochenbl. 1894, S. 597]

Man traf sich also 1895 in Tilsit zum 1. Lithauischen Musikfest, dem noch vier weitere folgten. (Wegen der langen Unterbrechung begann die Zählung wieder von vorn):

1. Tilsit, 3./4.6.1895
2. Insterburg, 29.–31.5.1898
3. Gumbinnen, 17.–19.5.1902
4. Memel, 11./12.6.1905
5. Tilsit, 7./8. Juni 1908

Initiator der Lithauischen Musikfeste war der Tilsiter Musikdirektor Peter Wilhelm Wolff. Er war der Festdirigent des 1. und 5. Fests; er berichtete deutschlandweit durch Zeitschriftartikel; er war die gute Seele des Unternehmens. Deshalb wird er in einem eigenen Menü wieder in Erinnerung gebracht. Dort ist auch zu erfahren, welchen Beitrag er zum Musikleben der Stadt Tilsit geleistet hat.

Während diese Feste deutsch geprägt waren, weist ein anderes Dokument nach, dass es daneben auf ostpreußischem Gebiet auch Musik in litauischer Tradition gab, wie die folgende Bildpostkarte zeigt. Hinweise in litauischer Sprache auf ähnliche Vereinigungen oder Veranstaltungen sind über Suchmaschinen zu erreichen, wenn die Suchbegriffe Lietuviška Giedotoju Draugija eingegeben werden.

Lietuviška Giedotoju Draugija iš Tilsėz 1907
Litauische Chor-Gesellschaft in Tilsit 1907
(zeitgenössische Bildpostkarte)

Anmerkungen:

[1]: Hierzu s. auch unter diesem externen Link.

[2]: Ein Rezensent schrieb in seiner Kritik über das 2. Littauische Musikfest 1898 von "der Kunst in unserem Littauerlande". – Man denke auch an die Litauischen Geschichten von Hermann Sudermann.