Über Ludwig Goldsteins Erinnerungen
Heimatgebunden. Aus dem Leben eines alten Königsbergers sind Ludwig Goldsteins Erinnerungen überschrieben, die nun endlich im Druck vorliegen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehören die fünf Typoskriptbände zu den Beständen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem. 2015 hat Goldsteins Großnichte Monika Boes den Text als stattliches Buch von mehr als 600 Seiten in der Berliner NORA Verlagsgemeinschaft herausgegeben.
"Alter Königsberger" ist natürlich doppeldeutig. Einerseits beschreibt es den Autor als von eh und je dazugehörig, der also etwas mitzuteilen hat; zum Anderen äußert sich hier ein Mensch, dessen Tage sich dem Ende nähern. Die Lebensumstände des alternden Goldstein machen das Buch zu einem ganz ungewöhnlichen Zeitzeugnis.
Das Buch gliedert sich in fünf Teile:
- Boden und Saat [Herkunft, Kindheit, Jugend]
- Wachstum und Reifen [Studium der Kunst- und Geisteswissenschaften; Militärzeit]
- Früchte, Kraut und Rüben - Vom Schreiben [Theaterredakteur; Begegnungen; auf literarischen Pfaden]
- Vom Reden [Goethe-Bund; Bekanntschaften und Freundschaften]
- Vom Leben [Kampf gegen die Zensur; Volksschillerpreis; Gesellschaften und Künstlerstammtische; Auswirkungen des "Judenerlasses"; Erinnerungen an seine Reisen]
Goldsteins Lebensgeschichte liest sich über weite Strecken wie ein gut geschriebenes Erinnerungsbuch eines fähigen Kulturredakteurs. Das fünfte Kapitel aber sprengt jeden Rahmen und macht es nahezu einzigartig. Soweit es die "Auswirkungen des 'Judenerlasses'" schildert, bricht es mit der herkömmlichen Erzählperspektive gleich doppelt. Wenn Zeitumstände gewöhnlich von der Seite der aktiv Handelnden betrachtet werden, entfällt dieser Aspekt hier, weil die Handelnden die Schuldigen sind, die sich bewusst ausgeschwiegen oder aus Scham verdrängt haben. Bei Goldstein kommt die andere Seite zu Wort, die des Erleidenden.
Es versteht sich, dass Goldsteins Aufzeichnungen nicht dazu gedacht waren, zu seinen Lebzeiten einen weiteren Kreis von Lesern zu erreichen. Seine Hoffnung war vielmehr, dass sie nach seinem Tode, unter Umständen, die er natürlich nicht einzuschätzen vermochte, eine Öffentlichkeit finden würden. Das ist nun der Fall.
Ein erstes Beispiel ist Goldsteins Schilderung der Umstände des Novemberpogroms in Königsberg, die weiter oben dokumentiert wird.
Goldstein über Paul Stettiner
Der zweite Beleg betrifft Goldsteins Bericht über die Leidensgeschichte und den Selbstmord Paul Stettiners, dessen große Verdienste um die Entwicklung der kulturellen Infrastruktur Königsbergs in den zwanziger Jahren an anderen Stellen dieses Portals gewürdigt wird. Goldstein und Stettiner sind ihren Weg als geduldete Juden in Königsberg in engem persönlichem Austausch gegangen. Niemand hat über Stettiners Schicksal glaubwürdiger und legitimierter schreiben können als Goldstein.
Goldsteins Schilderung kann hier angesteuert werden.